24.10
2024
06:50
Uhr

Das Vaterunser von Ravensbrück

Ein Beitrag von Thomas Steinbacher

Der Havelradweg, den wir als Paar im Oktober entlangradeln, führt auch an einem Ort vorbei, den wir bei Sonnenschein wahrscheinlich gemieden hätten. Nun aber regnet es, regnet und regnet. Und wir nehmen das als Fingerzeig, doch anzuhalten und uns Zeit zu nehmen für Ravensbrück, die Mahn- und Gedenkstätte des ehemaligen Konzentrationslagers. Die SS inhaftierte hier etwa 140.000 Menschen aus über 30 Nationen. Es waren überwiegend Frauen, die sich dem Naziregime widersetzt hatten und die nicht ins rassistische Bild der „deutschen Volksgemeinschaft“ passten. Zehntausende wurden hier ermordet. 
Immer wieder verstummt man vor diesen Zahlen, diesem Horror, diesem Zivilisationsbruch. 
Die Gedenkstätte ist aber – Gott sei Dank - so gestaltet, dass einen das Unfassbare erschlägt. Beim Schauen, Hören und Lesen lerne ich die Schicksale konkreter Menschen kennen, ihre Namen und Gesichter. Die Zahlen bleiben nicht abstrakt. Ich erfahre etwas vom Widerstand und Überlebenswillen, von Solidarität und Freundschaft, mitten im Horror des Lagers. Heimlich haben hier inhaftierte Frauen gemalt, gedichtet, gesungen. Es wurde sogar Feste gefeiert, Frauen bastelten ihren Kindern heimlich kleine Geschenke zum Geburtstag. Hinterm Rücken der Aufseherinnen wurden auch Gottesdienste gefeiert. Ich entdecke ein Bild der französischen Ordensschwester Élisabeth Rivet, die als Mitglied der Résistance in Ravensbrück inhaftiert war. Am Karfreitag 1945 opferte sie sich für eine Mutter und ging freiwillig an deren Stelle in die Gaskammer. Besonders bewegt hat mich dieses Gebet. Es ist dem Vaterunser nachempfunden. Urszula Winska dichtete es, lernte es auswendig und wagte eines Tages, es laut zu beten. Sie schrieb später: Die Ergriffenheit, die sich in Tränen offenbarte, zeugte davon , dass das Gebet tief erlebt wurde. Man begann es zu lernen und abzuschreiben. Dieses »Lagergebet«, wie wir es nannten , hat uns einander und Gott nähergebracht.“
Nach drei Stunden in Ravensbrück steigen wir nachdenklich auf unsere Räder und fahren weiter den Havelradweg entlang. Und sind jetzt entschlossener, nicht stumm zu bleiben, wenn es heute wieder losgeht mit Hass und Hetze. Dann bete ich: Gott, schenke mir Mut zu widersprechen!